Die Wahnsinns-Rally des Nasdaq 100
von Sven Weisenhaus
Haben Sie dieser Tage auch ungewöhnliche Anrufe oder Textnachrichten aus dem Familien- oder Freundeskreis erhalten? Von Menschen, die noch nie eine Aktie besessen haben? Bei mir war das vorgestern der Fall. Ein 16-jähriger Teenager hat mich per Textnachricht gefragt, ob ich für ihn 100 Euro in Rheinmetall investieren könnte. Und wenig später rief mich sein Vater an, ob ich von ihm nicht noch 500 Euro hinzutun könnte. Meine Antwort: Wir können ja bei einem persönlichen Gespräch darüber reden.
Läuft inzwischen wieder eine Dienstmädchenhausse?
Heute Morgen kam mir dann direkt nach dem Aufwachen das Wort „Dienstmädchenhausse“ in den Sinn. Bei der Internetsuche nach diesem Begriff findet man unter den ersten Ergebnissen auch einen Stockstreet-Beitrag vom 01.02.2021 mit dem Titel „Die neue Qualität der Dienstmädchenhausse“ (Platz 6 bei Ecosia, Platz 7 bei Google).
Will man den Markt verstehen, muss man auf NVIDIA sehen
Doch bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich noch kurz einschieben, dass ich gestern Morgen nach den ersten Gedankengängen noch im Bett liegend wie üblich in der Stock3-App (erhältlich im App Store und bei Google Play) auf meinem Handy in meine Watchlists geschaut habe. Die meisten deutschen Aktien lagen im frühen Handel im Minus, ein großer Teil davon sogar mit -2 % und mehr. Der nächste Blick wanderte zum DAX: kaum -0,1 % im Minus. Also der nächste Blick auf NVIDIA: Klar, die Aktie ist wieder einmal im Plus. Und der Nasdaq? Logisch, auch im Gewinn. „Verrückt“, so mal wieder mein Fazit zum Markt.
Die Wahnsinns-Rally des Nasdaq 100
Es ist also wieder einmal eine einzelne Aktie, welche die Aktienindizes oben hält, während deutsche Werte in der Breite Kursverluste erleiden. Dazu kam mir der Titel der vorgestrigen Analyse in den Sinn: „Will man den Markt verstehen, muss man auf NVIDIA sehen“. Darin ist zu lesen: „Der Dow Jones hat im laufenden Jahr schon um etwas mehr als 16 % zugelegt, nachdem es im Jahr davor mehr als 13 % waren. Beim marktbreiten S&P 500 sind es sogar 24,45 % (2024) und 24,23 % (2023).“ Aufgestanden, ab an den PC – Folgendes nachgeschaut: Der Nasdaq 100 hat 2023 um sagenhafte 53,81 % (!) zugelegt. Und 2024 sind es bislang +25,60 %.
Zusammengenommen sind es binnen weniger als 2 Jahren mehr als +90 %. Vom Tief des 13. Oktober 2022 sind es sogar mehr als +100 % (!) in nur etwas mehr als 2 Jahren. (Wird Ihnen auch gerade etwas schwindelig?)
Jetzt könnte man natürlich argumentieren, dass es 2022 auch einen herben Bärenmarkt gab und der Nasdaq 100 daher neues Kurspotential hatte. Wirklich? Schauen wir uns einen längerfristigen Chart an:
Keine Frage – der Bärenmarkt von 2022 war eine ordentliche (ABCDE-)Korrektur. Mit dieser wurden ziemlich genau 61,80 % des vorherigen Aufwärtstrends korrigiert. Moment: „Aufwärtstrend“? Der Nasdaq 100 war von März 2020 bis November 2021 um fast 150 % (!) explodiert. Mit anderen Worten: Das war kein Aufwärtstrend, das war eine massive Übertreibung – der vorherige Corona-Crash, bei dem der Nasdaq 100 um mehr als 30 % einbrach und dadurch bis auf das Niveau von Anfang 2019 zurückfiel, sieht dagegen aus wie ein kleiner Rücksetzer!
5-gliedrige KI-Blase?
Um daher nicht sogar zu sagen: Die Technologieaktien laufen von einer Blase in die nächste. 2021 herrschte ein „GameStop-Hype“, aktuell haben wir es eben mit einer „Magnificent 7“- bzw. KI-Blase zu tun. In dieser wird ein Aktienindex, der aus 3.000 Werten besteht, von 4 Aktien dominiert, weil diese einen Anteil am Index von 64,65 % haben (siehe vorgestrige Analyse). Aber hey, bis auf einen Kurszuwachs des Nasdaq 100 von +150 % hat die aktuelle Blase ja noch eine Menge Potential.
Beachten Sie jedoch: Irgendwie hat auch der aktuelle Aufwärtstrend schon einen 5-gliedrigen Verlauf. Und wie wir vorgestern anhand des Nasdaq Composite erfahren haben (siehe folgender Chart), gilt dies womöglich auch bereits für die Welle 5 dieses Trends.
Ich gebe zu, irgendwie sehen diese Elliott-Wellen-Strukturen merkwürdig aus. Die vermeintliche Welle 3 von Winter 2022 bis Sommer 2024 fällt im Verhältnis zu der kurzen Welle 1 extrem lang aus (dritter Chart). Und die Welle 3 der aktuell womöglich laufenden Welle 5 wirkt dagegen im Vergleich zur steilen Welle 1 kurz und kraftlos (vierter Chart). Daher sind diese Elliott-Wellen-Zählungen mit Vorsicht zu genießen.
Sind Selbstzweifel angebracht?
Auch im Chartanalyse-Dienst „Target-Trend-Spezial“ hatte ich den Lesern kürzlich bereits eingestanden, dass der Kursverlauf – in dem Fall des S&P 500 – derzeit aus Sicht der Elliott-Wellen für mich persönlich nur schwer zu deuten ist. Bin ich also ein schlechter Chart- oder Elliott-Wellen-Analyst? Sind solche Selbstzweifel angebracht nach mehr als 25 Jahren Börsenerfahrung? Oder ist der Markt derzeit einfach ungewöhnlich und daher auch für Profis kaum zu analysieren?
Ich bin mir ziemlich sicher: Letzteres ist der Fall. Denn ich kenne derzeit kaum einen Kollegen, der mit diesem Markt zurechtkommt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die vorgestrige Frage von Jochen Steffens: „Verstehst du noch den Markt?“ Und ich habe bei einem Branchentreffen in Frankfurt schon Mitte September viele solcher Gespräche geführt.
Wer glaubt aktuell ein eine größere Korrektur?
Dabei herrschte Einigkeit darüber, dass der aktuelle Aufwärtstrend des Nasdaq 100 schon (wieder) extrem weit gelaufen und sehr reif ist. Eine große Korrektur, wie wir sie 2022 gesehen haben, sollte niemanden überraschen. Und wenn diese wieder 61,80 % der Aufwärtsbewegung ausmacht, kann der Nasdaq 100 aus heutiger Sicht bei 14.525 Punkten landen.
Wahrscheinlich können sich das die meisten Anleger (vor allem die Bullen) derzeit kaum vorstellen. Aber vielleicht ist für sie ein Rücksetzer bis zum Hoch vom November 2021 bei 16.764 Punkten realistischer. In diesem Bereich liegt derzeit auch das 38,20er Retracement – konkret bei 17.048,39 Punkten. Auf diesem Niveau könnte zudem die psychologisch wichtige Marke von runden 17.000 Zählern eine Rolle spielen.
Geduldig auf den nächsten Zug warten
Vorerst sind das aber nur Gedankenspiele des einsamen Autors eines Börsennewsletters in seinem stillen Kämmerlein. Wer will aktuell schon von solchen bearishen Überlegungen belästigt werden, wo es doch (scheinbar) gerade so gut läuft an den Börsen – zumindest für einige Anleger, die auf eine Handvoll Aktien gesetzt haben. Der Rest schaut seit geraumer Zeit in die Röhre und wundert sich, warum ausgerechnet die eigenen Aktien wie Blei im Depot liegen, wo doch die Indizes und damit vermeintlich der Gesamtmarkt durch die Decke gehen.
Leider zähle ich mich zum „Rest“, weil ich dem fahrenden Zug namens „KI-Blase“ nicht hinterherlaufe. Aber ich habe Geduld und Zeit und kann auf den nächsten Zug warten. Wenn die KI-Blase platzt oder zumindest Luft ablässt, dürfte diese in die Aktien fließen, die mit einer fundamental günstigen Bewertung punkten können.
Der Stockstreet-Artikel zur Dienstmädchenhausse
Und damit komme ich jetzt noch einmal auf die Börse-Intern-Ausgabe vom 01.02.2021 mit dem Titel „Die neue Qualität der Dienstmädchenhausse“ zurück. Als diese erschien, war der Nasdaq 100 um mehr als 100 % gestiegen – also noch etwas weiter als der aktuelle Aufwärtstrend. Bis zum 16.02.2021 legte der Nasdaq 100 noch weiter zu. Dann ging es um 12 % abwärts. Die Leser des Artikels waren also rechtzeitig gewarnt.
Doch nach dem Rücksetzer ging es noch einmal um mehr als 37 % aufwärts, bevor die große (ABCDE-)Korrektur einsetzte. Das Hoch wurde mit dem Artikel also nicht getroffen, stattdessen hätte man bei einem Ausstieg aus dem Markt fast ein ganzes Jahr weiter steigende Kurse verpasst.
Doch in dem Artikel war zu lesen, dass „die letzte Phase des Bullenmarkts begonnen“ hat, „die in der Regel zur allgemeinen Übertreibung führt“. Und Torsten Ewert, der den Artikel verfasst hat, war zu diesem Zeitpunkt NICHT der Meinung, dass dies das Ende der „Dienstmädchenhausse“ ist. Er behielt Recht. Später kam es allerdings zu der befürchteten und erwartbaren großen (ABCDE-)Korrektur. Und selbst wenn man schon im Februar 2021 ausgestiegen wäre, als es schon zahlreiche Hinweise auf eine Übertreibung (und ihre letzte Phase) gab, wäre man immer noch gut gefahren, da die ABCDE-Korrektur deutlich unter das Tief des 12%-Rücksetzers führte. Um genau zu sein: Um -14,48 % landeten die Kurse im Oktober 2022 unterhalb des Tiefs vom 05.03.2021.
Nun ist es natürlich Interpretationssache, was man als Anleger aus diesem Sachverhalt macht. Und letztlich ist der Artikel vom 01.02.2021 auch nur eine Zufallsauswahl aufgrund von Google-Suchergebnissen nach dem Begriff „Dienstmädchenhausse“. Aber es gibt doch viele Parallelen zur aktuellen Marktsituation. Und daher würde ich nicht darauf setzen, dass es mit dem Nasdaq 100 nach dem aktuellen Anstieg um rund 100 % noch einmal um 37 % weiter nach oben geht. Stattdessen würde ich eher darauf setzen, dass es bald erneut zu einem Rücksetzer kommt, der durchaus wieder -12 % ausmachen kann.
Daher wiederhole ich den Tipp von Torsten Ewert, den er am 02.01.2021 gegeben hatte: „Achten Sie also auf weitere Übertreibungszeichen und sichern Sie Ihr Depot und Ihre Gewinne gegebenenfalls ab. Und es kann auch nicht schaden, Ihr Pulver nun wieder trockener zu halten.“ Kommt Ihnen bekannt vor? Nun, erst vorgestern hatte ich geschrieben: „Neben der Charttechnik gibt es auch fundamentale Gründe dafür, mal einige Schäfchen ins Trockene zu bringen.“
Ich wünsche Ihnen jedenfalls weiterhin viel Erfolg an der Börse
Ihr
Sven Weisenhaus
(Quelle: www.stockstreet.de)